Die zwei Zeugen (2)

 

 

Exkurs 11: Die zwei Zeugen

Nach einer alten und heute noch vertretenen Ansicht sind mit den zwei Zeugen Henoch und Elia gemeint, die nach alttestamentlicher Aussage nicht gestorben und deshalb möglicherweise von Gott für ein besonderes Zeugniswerk auf Erden, nach dem sie den Märtyrertod erleiden sollen, vorgesehen sind. Tatsächlich sind Henoch und Elia Vorbilder besonderer Taten Gottes, die während des Zeitalters der Kirche ihre Erfüllung finden sollen und teilweise schon gefunden haben. Dennoch ist die Deutung der zwei Zeugen auf die persönliche Rückkehr alttestamentlicher Heiliger reine Spekulation, die jeder weiteren biblischen Grundlage entbehrt.

Die Bezeichnung der zwei Zeugen als die "zwei Ölbäume" verweist zunächst auf den alttestamentlichen Propheten Sacharja. Nach der Rückkehr der Juden aus dem babylonischen Exil hat er folgende Vision: Er sieht einen goldenen Leuchter und über diesem ein Ölgefäß, das durch sieben Röhren mit den sieben Lampen des Leuchters verbunden ist. Zu beiden Seiten des Leuchters steht je ein Ölbaum; diese produzieren das Öl, das dann über das Gefäß in die Lampen des Leuchters fließt. Auf Sacharjas Bitte nach einer Erklärung gibt ein Engel die Antwort: "Dies ist das Wort des Herrn an Serubabel: Nicht durch Macht und nicht durch Kraft, sondern durch meinen Geist soll es geschehen, spricht der Herr der Heerscharen." Daraufhin fragt Sacharja noch einmal gezielt nach den Ölbäumen, woraufhin der Engel sagt, daß es sich um die beiden Gesalbten handelt, die bei dem Herrn der ganzen Erde stehen.

Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß der goldene Leuchter sinnbildlich für das Volk Israel steht, das berufen ist, Licht und Leben aus Gott unter allen Völkern der Erde zu verbreiten. Doch an diesem Beruf ist Israel gescheitert. Statt Licht zu verbreiten, trat es die Gebote mit Füßen, betete fremde Götter an und mußte schließlich – nach vielfachen Warnungen durch die Propheten – siebzig Jahre in der babylonischen Gefangenschaft verbringen. Der aus königlichem Geschlecht stammende Serubabel, den Kyros 538 v. Chr. zum Statthalter über die Provinz Judäa einsetzte, war es dann, der zusammen mit dem Hohenpriester Josua die zurückkehrenden Juden nach Jerusalem führte. Nach der Wiederaufnahme des Gottesdienstes begann im Jahr 537 der Wiederaufbau des Tempels, der bald darauf durch feindliche Aktionen ins Stocken geriet. Erst der Zuspruch der Propheten Haggai und Sacharja konnte zum Weiterbau motivieren.

Wenn Sacharja auf die Frage nach dem goldenen Leuchter die Antwort bekommt: "Nicht durch Macht und nicht durch Kraft, sondern durch meinen Geist", dann ist damit gesagt: Die Wiederherrichtung des goldenen Leuchters bzw. die Wiedereinsetzung Israels in seinen königlichen und priesterlichen Beruf, die mit dem Neuaufbau des Tempels unlösbar verbunden ist, wird keinesfalls durch die natürliche Kraft einzelner oder vieler Menschen bewerkstelligt werden, sondern Gott selbst hat sich dazu zwei Menschen, nämlich die zwei Ölbäume, ausersehen, durch deren Dienst das gesamte Volk mit dem Geist des Lichtes und der Kraft erfüllt werden soll. Hiermit sind zweifellos Josua und Serubabel gemeint, die als die zwei Gesalbten – zwei mit Gottes Geist in besonders reichem Maße erfüllte Boten – vor dem "Herrscher der ganzen Erde", nämlich dem Perserkönig Kyros, stehen, der auf Gottes Geheiß den Auftrag zur Rückkehr nach Jerusalem und zum Wiederaufbau des Tempels erteilt.

Die Vision Sacharjas bezieht sich somit zunächst auf das Volk Israel, hat aber darüber hinaus auch eine Bedeutung für das geistliche Israel, nämlich die Kirche. Das Werk der zwei Zeugen der Endzeit, die Wiederaufrichtung der Kirche auf ihren ursprünglichen Grundlagen, ist mit der Tätigkeit der alttestamentlichen "zwei Ölbäume" nicht nur vergleichbar, es geschieht vielmehr in genauer Entsprechung zu diesem Typus. Auch in den Tagen des Antichristen stehen die zwei Zeugen vor diesem "Herrn der Erde", und sie werden, auch gegen dessen Willen, die Rückführung des Volkes Gottes aus der jahrhundertelangen "babylonischen Gefangenschaft", d.h. aus der Zerrissenheit der einen Kirche in unzählige Konfessionen und Sondergemeinschaften, die in unheilvoller Weise Geist und "Fleisch" miteinander vermischt und auf diese Weise zahlreiche Verirrungen in Lehre, Leben und auch im Gottesdienst der Kirche verursacht haben, in die Wege leiten. Mehr noch: Sie werden den Bau des neutestamentlichen Tempels zu seiner Vollendung führen, damit das Volk des neuen Bundes das sein kann, wozu Gott es berufen hat: Ein königliches und priesterliches Volk, das als die eine heilige katholische und apostolische Kirche, als Gottes Haus, in dem er wohnt, als der goldene Leuchter, der allen Licht und Leben spendet, im künftigen Reich Gottes die gesamte auf Erden lebende Menschheit auf seinen Wegen führt und ihr seinen Segen mitteilt.

Zum Verständnis der Eigenart der zwei Zeugen trägt weiter der alttestamentliche Grundsatz bei, daß zu einem gültigen und beweiskräftigen Zeugnis vor Gericht zwei Zeugen notwendig waren. Jesus hat dies nicht allein anerkannt, sondern auch auf zwei Zeugen für die Wahrheit seines Anspruches und die Vollmacht seiner Sendung verwiesen, nämlich auf sich selbst und auf seinen Vater.

Nach der Himmelfahrt Jesu sollten ebenfalls zwei Zeugen für die Fortführung seiner Sache auf Erden und deren Beglaubigung wirksam sein: zum einen der am Pfingsttag herabgekommene Heilige Geist, der sich in besonderer Weise durch die Worte der urchristlichen Propheten äußerte, zum anderen die bekennenden Nachfolger Jesu, und zwar vornehmlich die, die er zu seinen Aposteln, d.h. zu seinen unmittelbaren Gesandten gemacht hatte. Männer mit apostolischer Autorität, Weisheit und Erkenntnis sowie die wirkkräftige Gegenwart des Heiligen Geistes in Propheten und anderen charismatisch begabten Gemeindemitgliedern – dies doppelte Zeugnis war es, das dem Glauben der frühen Kirche Kraft, Frische und Lebendigkeit verlieh. Nach dem Verlust des Apostelamtes und dem weitgehenden Dahinschwinden der charismatischen Gaben in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten hatte die sich bald weltweit ausbreitende Kirche zu allen Zeiten lange und schwere Durststrecken durchzustehen; doch jetzt, in den letzten Tagen, nämlich während der Zeit der sechsten Posaune, soll durch das Auftreten der zwei Zeugen auf allen Gebieten des kirchlichen Lebens eine intensive geistliche Neubelebung erfolgen. Das doppelte Zeugnis wird in kraftvoller Weise wieder hervortreten: Zunächst wird der Heilige Geist sein Schweigen brechen, und nicht nur von einzelnen Gläubigen, sondern von der Gesamtheit der Gemeinde wird die Stimme der Weissagung ausgehen und auch Gehör finden. Überall in der Christenheit werden die Gaben und Kräfte des Heiligen Geistes, wirkmächtig wie in der frühen Zeit der Kirche, hervortreten. Gleichzeitig werden mit geistlicher Weisheit und Erkenntnis erfüllte und vom Herrn der Kirche selbst berufene Boten auftreten, die das kirchliche Leben ordnen, so daß der Tempel Gottes auf seinen ursprünglich ihm verliehenen Grundlagen erbaut und noch vor der Ankunft Christi vollendet werden kann.

Ganz abgesehen von dieser Deutung ist die Zweizahl der Zeugen sicher auch im buchstäblichen Sinn zu verstehen. Im Lukasevangelium wird von siebzig Jüngern Jesu berichtet, die er, mit seiner Vollmacht ausgerüstet, wie Lämmer mitten unter die Wölfe sendet. Ausdrücklich wird vermerkt, daß diese siebzig Jünger jeweils zu Zweien auszogen, um den Menschen solcher Orte, die Jesus später persönlich aufsuchen wollte, die Botschaft vom nahe bevorstehenden Reich Gottes zu verkündigen. Nach katholisch-apostolischer Auffassung hat dieser Bericht endgeschichtliche Bedeutung. Der erwähnte Sturz Satans wird eines der ersten Ereignisse in der Zeit des sechsten Posaunengerichtes sein, und auch die "Ernte", die die siebzig Jünger einbringen bzw. durch ihre Verkündigung vorbereiten sollen, verweist auf die erste Hälfte der großen Drangsal und die "große Ernte", die von den zwei Zeugen "gesammelt und in die Scheune des Himmels eingebracht" wird. An der Spitze der unzählbaren Zeugenschar werden siebzig mit apostolischer Vollmacht ausgestattete Männer stehen, die während der Zeit des Antichristen zu Zweien ausgehen, um der Christenheit den Weg zu zeigen, der aus Babel, der großen Stadt der Verwirrung, herausführt.

Das Werk der zwei Zeugen kann wie folgt thesenartig zusammengefaßt werden:

1. Sie sind Boten prophetischen Charakters, d.h. sie verkünden und bezeugen autoritativ den Willen Gottes im vollen und unverfälschten Sinn.

2. Ihre Zweizahl betont das hohe Maß der Wichtigkeit, Zuverlässigkeit und Vollmacht ihres von Gott erteilten Auftrags.

3. Der Wirkungsbereich der zwei Zeugen ist die Kirche, und zwar in den Tagen der sechsten Posaune, d.h. in dem Zeitabschnitt, der unmittelbar auf die Entrückung der Erstlinge folgt und den Gerichten der sieben Zornschalen vorausgeht.

4. Ihre Aufgabe ist die Sammlung und Wiederherstellung der Gemeinde Christi, und zwar nach einem exakt vorgegebenen Maßstab, der sich nach den ursprünglich von Gott gestifteten Grundlagen der Kirche richtet.

5. Als Gottes "Ölbäume" sind sie mit einem überaus hohen Maß geistlicher Kraft ausgestattet, vermöge derer sie zur Bekräftigung ihres zeugnishaften Auftrages auch Wunder tun können. Dabei wird gerade auch der Entzug der Segnungen Gottes die Einladung, die rettende "Arche der Endzeit" zu betreten, dringlich machen.

6. Ihr Zeugnis wird polarisierend wirken. Sie werden sich dadurch erbitterte Feinde schaffen, und der Riß der Trennung wird durch alle Kirchen und christlich geprägten Gemeinschaften hindurchgehen.

7. Die Aufgabe der zwei Zeugen hat nicht allein prophetischen, sondern auch priesterlichen, pastoralen und sogar apostolischen Charakter. Dabei werden sie schwache Menschen sein, von Ängsten und Zweifeln geplagt. Nur durch die Kraft des ihnen innewohnenden Geistes werden sie in der Lage sein, ihren Auftrag zu erfüllen.

8. Nach der Ausführung ihres Auftrages werden sie "getötet": Alle Kraftwirkungen des Heiligen Geistes werden ihnen entzogen, so daß sie – wie einst ihr Herr – zum Gespött ihrer Feinde werden. Nach dieser genau festgelegten Zeit der Prüfung werden sie durch Gottes Geist neu belebt und vor den Augen ihrer Feinde zum Himmel auffahren.

9. Das Wirken der zwei Zeugen wird sich in der dunkelsten Stunde, die jemals über die auf Erden lebenden Menschen gekommen ist, am Ende nicht als Gericht und Zerstörung, sondern als Gottes gnädiges Rettungshandeln erweisen.

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