Wesen und Auftrag des apostolischen Amtes

 

 

Exkurs 4: Wesen und Auftrag des apostolischen Amtes

Nach katholisch-apostolischer Auffassung ist das apostolische Amt – auch nach dem Abgang der frühchristlichen Apostel – für die Kirche von allergrößter Bedeutung. Die Übersetzung des aus der griechischen Sprache stammenden Begriffes Apostel ist schlicht und einfach "Gesandter". Im Neuen Testament wird zwischen Aposteln im weiteren und engeren Sinne unterschieden. Ein Apostel im weiteren Sinne ist beispielsweise Titus, der von seiner Gemeinde nach Rom gesandt wurde, um dem dort im Gefängnis sitzenden Paulus eine für ihn gesammelte Geldsumme zu überbringen. In ähnlicher Weise ist im 2. Korintherbrief von "Brüdern" die Rede, die als Apostel der Gemeinden "zur Ehre Christi wirken". Auch hier handelt es sich nicht um Apostel Jesu Christi im engeren Sinne, sondern um Abgesandte einer Gemeinde, die besondere, fest umrissene, aber zeitlich befristete, Aufträge ihrer Gemeinde zu erfüllen haben.

Darüber hinaus ist der Apostelbegriff im Neuen Testament auch feststehende Bezeichnung für das höchste kirchenleitende Amt. Wenn das Wesen der Kirche auch geistlicher bzw. charismatischer Natur ist, so darf doch der Aspekt der Herrschaft Christi in seiner Kirche nicht unberücksichtigt bleiben. Sollte doch der Heilige Geist nicht kommen, um sich selbst zu verherrlichen, sondern Christus. Dieser ist aber "ins Fleisch", d.h. in die Natur eines gewöhnlichen Menschen gekommen. Somit hat die Fleischwerdung des Sohnes Gottes die Möglichkeit der Gegenwart Gottes in und durch Menschen – sofern er sie dazu beruft und fähig macht – eröffnet.

Diese Möglichkeit ist mit der Herabkunft des Heiligen Geistes am Pfingsttage im vollen Maße Wirklichkeit geworden, indem die zwölf Apostel, die bis auf Matthias vom irdischen Jesus berufen worden waren, durch den Heiligen Geist Kraft und Vollmacht empfingen, das Werk des Auferstandenen weiterzuführen. Dieses Werk besteht in Gründung, Aufbau und Leitung der Kirche Christi, mit dem Ziel ihrer Vorbereitung auf seine persönliche Rückkehr zur Aufrichtung seines Friedensreiches. Die Aufgaben bzw. Vorrechte der Apostel waren im wesentlichen die folgenden:

1. Christliche Gemeinden zu gründen.

2. Das Evangelium allen Menschen zu verkündigen.

3. Alle Völker zu taufen und sie zu lehren.

4. Das Heilige Abendmahl zu verwalten.

5. Sünden zu erlassen und zu behalten.

6. Verordnungen und Weisungen zur Leitung der Gesamtkirche zu erlassen.

7. Verwaltungsfragen zu regeln.

8. "Durch den Geist bezeichnete Männer" in verschiedene Dienstämter einzusetzen.

9. Den Getauften mittels Handauflegung den Heiligen Geist mitzuteilen.

In neutestamentlicher Sicht sind Apostel das Einheitsband der Gesamtkirche. Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn im Heiligen Geist hat die Kirche durch sie, und nur durch Apostel Jesu Christi kann sie zur "Vollkommenheit" gelangen, d.h. auf den Tag seiner Wiederkunft in notwendiger Weise vorbereitet werden.

Apostel verkündigen den vollkommenen Willen Christi. Er selbst kommt in ihnen zu seiner Gemeinde. Apostel sind die "Haushalter über die Geheimnisse Gottes"; sie haben Christi Sinn und reden nicht ihre eigenen Worte, sondern die Worte und Gebote ihres Herrn. Mehr noch: Eine andere Wahrheit als die von Aposteln verkündigte gibt es schlechterdings nicht.

Nach Epheser Kap. 2, 20 ist die Kirche auf dem Grund der Apostel und Propheten erbaut. Hier ist nicht von den Schriften toter Apostel und Propheten – und erst recht nicht von alttestamentlichen prophetischen Büchern – die Rede, sondern es geht hier um die Gegenwart lebender Menschen, die apostolische bzw. prophetische Funktionen in der Kirche ausüben, denn Christus ist nicht der Eckstein eines aus biblischen Büchern bestehenden Grundes. Das Haus der Kirche muß, soll es stabil und tragfähig sein, auf dem Fundament lebender Menschen gebaut sein, die vom Herrn der Kirche mit der notwendigen Vollmacht, mit allen Gaben und Kräften des Heiligen Geistes, ausgerüstet sind.

Während im Katholizismus die apostolische Autorität dem Bischof von Rom und dem ihm zugeordneten Klerus übertragen wurde, lag es im Wesen des Protestantismus und seiner nicht selten einseitig betonten Lehre vom Priestertum aller Gläubigen, das Recht und die Fähigkeit der Ausübung der ursprünglich den Aposteln vorbehaltenen Tätigkeiten der Gesamtheit der Gläubigen zuzuordnen. Zwar sollte dabei die Heilige Schrift als alleinige Richtschnur in den Fragen der Lehre und des Lebens gelten, doch waren mit diesem Prinzip Uneinigkeit und Spaltungen schon vorprogrammiert. Denn die Bibel vermag nun einmal nicht selbst das Wort zu ergreifen, um etwa strittige theologische Fragen zu erörtern oder gar zu schlichten. Viele, ja unzählige Lösungsmöglichkeiten sind denkbar. Deshalb ist eine verbindliche und allgemein anerkannte Instanz, die in Fragen der Lehre, des Lebens und der Verkündigung anhand der Schrift klare Richtlinien festlegt, unumgänglich. Tatsächlich finden sich – mehr oder weniger stark ausgeprägt – auch in den protestantischen Kirchen geistliche Leitungsinstanzen.

Nach katholisch-apostolischer Auffassung hat ein konsequent praktiziertes Sola-Scriptura-Prinzip mit neutestamentlicher Theologie so viel gemeinsam wie der Aussagegehalt der Behauptung, jeder mündige Christ dürfe – mit der Bibel in der Hand – sich als sein eigener Apostel und Lehrmeister betrachten, dem allein er Gehorsam zu leisten und Rechenschaft abzulegen habe. Es lasse sich auch keine Schriftstelle anführen, die den Beweis erbringt, die biblischen Schriften allein sollten oder könnten der Kirche in der Zukunft alles das leisten, was am Anfang die Apostel ausrichteten.

Überhaupt waren sämtliche "Ersatzmittel", die im Laufe der Kirchengeschichte an die Stelle apostolischer Amtsvollmacht traten, keinesfalls geeignet, diese Lücke, die um die erste Jahrhundertwende entstand, zu schließen: Ein in stringenter Weise praktiziertes Schriftprinzip, das den Stellenwert des kirchlichen Amtes vernachlässigt, wenn nicht vollkommen außer acht läßt, das fromme Selbstbewußtsein des einzelnen, die autonome und aufgeklärte Vernunft und, aus dieser erwachsen, der historische Kritizismus, ferner die Tradition der Kirche und auch ein in bischöflicher Sukzession stehendes Lehramt – alle diese können in keiner Form ein hinreichender Ersatz für die Gegenwart lebender Apostel sein.

(...)

Die Art und Weise der Berufung eines Apostels ist von Fall zu Fall verschieden. Während Jesus zunächst mündlich berief, wurde Matthias per Losverfahren ermittelt, Paulus und Barnabas dagegen empfingen den Ruf unmittelbar vom erhöhten Herrn. Ihre feierliche "Aussonderung" durch den Heiligen Geist, d.h. durch das Wort der anwesenden Propheten, begründete nicht ihre apostolische Autorität, sondern markierte lediglich die Herauslösung aus ihrer bisherigen Tätigkeit und somit den Beginn ihrer apostolischen Amtswirksamkeit.

Die jeweilige Verschiedenheit in der Art und Weise der Berufung und Aussendung von Aposteln läßt deutlich werden, daß dieses Amt weder eine persönliche Benennung durch den irdischen Jesus noch einen persönlichen Umgang mit ihm während der Zeit seiner irdischen Wirksamkeit unabdingbar voraussetzt. Fraglich ist auch, ob eine Vision des Auferstandenen, wie Paulus sie erlebt hat, in jedem Fall erforderlich sein muß. Eine Berufung muß erfolgen, wie diese aber geschieht, ist Sache des Berufenden, der in seiner Vorgehensweise absolut souverän ist und niemandem darüber Rechenschaft abzulegen hat. Grundsätzlich ist deshalb die Berufung und Aussendung von Aposteln jederzeit möglich.

Der Erweis der apostolischen Autorität eines Menschen kann sich für Prüfende niemals aus dem ableiten, was der mit apostolischem Anspruch Auftretende erfahren zu haben vorgibt. Als Beweis seiner Vollmacht führt denn auch Paulus nicht in erster Linie sein Damaskuserlebnis an, sondern vor allem die Ergebnisse seiner Tätigkeit. Darauf legten auch die übrigen Apostel bei ihrer Beurteilung von Paulus und Barnabas das Hauptgewicht, und darauf verweist auch Paulus die Korinther bei der Verteidigung seiner Apostelvollmacht. Wer beansprucht, ein Apostel Christi zu sein, hat nicht nur die Taten eines Bischofs oder eines begabten Lehrers auszurichten – er muß auch die obengenannten spezifischen Aufgaben eines Apostels, und zwar vor den Augen aller, sichtbar erfüllen. Das untrügliche Kennzeichen, an dem echte Propheten erkannt werden können, ist die "Frucht" ihrer Wirksamkeit: "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen".

Während die Jerusalemer Urgemeinde beständig in der Lehre der Apostel blieb und auch Paulus sich des ungeteilten Glaubens und der Liebe der Thessalonicher rühmen konnte, fand schon bald ein Geist der Auflehnung gegen das Apostelamt in die frühe Gemeinde Eingang. So ließen sich zum Beispiel die Galater von selbsternannten Aposteln beeindrucken, was zu Streit und Uneinigkeit führte und das Werk des Paulus zu zerstören drohte. Bei den Korinthern hingegen waren nicht nur Spaltungen, Parteiwesen und grobe Fehltritte unter Gemeindegliedern an der Tagesordnung, es wurde gar die apostolische Kompetenz des Paulus offen bestritten. Am Ende seines Lebens sah Paulus sich von vielen verlassen, die zunächst treu zu ihm gehalten hatten.

Doch nicht allein Paulus, auch Johannes stieß in den seiner Leitung unterstellten Gemeinden auf Widerstand und Ablehnung. Der Vorsteher Diotrephes will seine Autorität nicht mehr anerkennen, und auch die sieben Sendschreiben, an die Gemeinden gerichtet, in denen Johannes nach dem Tod des Paulus wirkte, lassen schwere geistliche Schäden erkennen, die zumindest teilweise auf die Nichtachtung der Autorität des letzten noch lebenden Apostels zurückzuführen sein dürften.

Die ernsten Ermahnungen, die die damalige Christenheit auf das mahnende Vorbild Israels hinwiesen, waren offenbar umsonst. Wie einst das Volk des Alten Bundes wegen seiner Kritik an Mose nicht ins verheißene Land ziehen konnte, obwohl es unmittelbar vor dessen Grenze stand, so vermochte anscheinend auch das Volk des Neuen Bundes nicht ins "himmlische Kanaan" zu ziehen, weil es seinem "Mose", d.h. den Aposteln, mit Widerstand und Kritik, wenn nicht sogar mit entschiedener Ablehnung entgegentrat. Mit anderen Worten: Die Hoffnung auf die baldige Wiederkunft Christi erfüllte sich in der Zeit der Urchristenheit allem Anschein nach deshalb nicht, weil das auflehnerische "Murren" gegen die von Christus verordneten Leiter der Kirche, nämlich gegen die Apostel, den geistlichen Reifeprozeß bei der Mehrzahl der Gläubigen behinderte oder gar stagnieren ließ.

Dieser Umstand bietet auch eine Erklärung für die scheinbar widersprüchlichen paulinischen Aussagen über den Zeitpunkt der Wiederkunft Christi. Hatte er zunächst noch auf seine Teilnahme an der "Entrückung" gehofft, sprach er später nur noch von seinem nahe bevorstehenden Tod. Allein Christus, der souveräne Herr der Kirche, kann Apostel berufen und aussenden. Er kann auch, wenn er es für nötig hält, seiner Kirche dieses Amt entziehen, selbst wenn dasselbe zu ihrer Vollendung unabdingbar notwendig wäre. Es scheint, daß Apostel deshalb in der Kirche nicht mehr wirksam sein konnten – und offenbar auch nicht mehr sollten – , weil sie mit allem Nachdruck verachtet und zurückgestoßen worden waren.

Zweifellos ist die Kirche nach dem Entzug des apostolischen Amtes nicht von ihrem himmlischen Herrn getrennt worden. Durch alle Zeiten hindurch, auch in den Zeiten tiefsten Verfalls, war und ist Christus in ihr gegenwärtig. Die Verkündigung seines Wortes und die Sakramente haben immer und überall ihre Segenskraft, genauer gesagt die Segenskraft Christi, erwiesen. Was zum Seelenheil und zur geistlichen Reife des einzelnen notwendig ist, findet sich bis auf den heutigen Tag in den Kirchen aller Konfessionen, auch ohne das apostolische Amt. Die Gewißheit dieser Tatsache darf jedoch nicht von folgenden Fragen ablenken: Kann die Kirche ohne die Wirksamkeit lebender Apostel vollendet werden? War dieses Amt wirklich nur gegeben, um während eines bestimmten Abschnittes in der frühen Zeit der Kirche tätig zu sein? In Epheser Kapitel 4 formuliert Paulus explizit, daß neben Propheten, Evangelisten und Hirten und Lehrern auch Apostel von Christus eingesetzt wurden, "damit die Heiligen zugerüstet werden zum Werk des Dienstes, zur Erbauung des Leibes Christi,bis wir alle zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen und zu einem vollkommenen Mann werden, zum Maß des Alters der Fülle Christi kommen."

Dem unscheinbaren Wort "bis" in Vers 13 kommt in dieser Satzkonstruktion besondere Bedeutung zu, denn es markiert die Zeitdauer, während der die vier genannten Ämter in Kraft sein sollen und macht die Schlußfolgerung unumgänglich: Nicht irgendwelche menschlichen Mittel oder Methoden können den Bau der Kirche in gottgewollter Weise vorantreiben, sondern zur Vollendung der Kirche ist die Wirksamkeit lebender Apostel – und zwar bis zur Herbeiführung eines "anvisierten" Vollkommenheitszustandes – absolut notwendig. Daraus ergibt sich zwangsläufig die Frage: War etwa die Kirche, als ihr die Apostel genommen wurden, in einem solchen Zustand der Vollkommenheit, so daß die Amtswirksamkeit der Apostel nicht mehr nötig gewesen wäre? Die Antwort kann – wie aus obiger Darlegung hervorgeht – nur ein eindeutiges "nein" sein; denn statt Einheit und "Vollkommenheit" des Glaubens fanden sich im Gegenteil Verwirrung, Spaltung, Irrlehre und nicht zuletzt unverhohlene Mißachtung der apostolischen Autorität. So kann es denn auch nicht verwundern, daß der Verfasser des Hebräerbriefes die geistliche Reife der angesprochenen Gemeinde nicht rühmen kann. Vielmehr beklagt er den "Kindeszustand" seiner Adressaten: Obwohl sie die christliche Wahrheit schon lange kennen und deshalb in der Lage sein müßten, andere zu belehren, können sie doch nur "Milch" anstatt "fester Speise" aufnehmen.

Weitere Klagen und Mahnungen ließen sich hinzufügen, bis hin zu der Warnung, daß die Kirche selbst gefährliche Irrlehrer hervorbringen werde; ja zuletzt werde gar ein großer Abfall in ihr eintreten, und "der Mensch der Gesetzlosigkeit, der Sohn des Verderbens", der sich in den Tempel Gottes setzt und sich selbst als Gott ausgibt, werde erscheinen.

Wahrhaft erschreckende Aussichten, die im Hinblick auf die Frage nach Fortdauer und Notwendigkeit des apostolischen Amtes den Schluß nahelegen: Es war schwerlich der ursprüngliche und eigentliche Wille Christi, seiner Kirche die Apostel zu entziehen, sondern es war ein schmerzlicher Eingriff, seine wohlüberlegte Reaktion auf den frühchristlichen Widerstand gegen die Autorität der unmittelbar von ihm gesandten Boten. Somit war die mühevolle "Wüstenwanderung" der Kirche schon vom ersten Jahrhundert n. Chr. an vorgezeichnet, und von vornherein war abzusehen: Kein Ersatzmittel würde den Verlust des apostolischen Amtes in hinreichender Weise ersetzen können. Zwar ist die Kirche durch die Jahrhunderte hindurch auf wunderbare Weise erhalten geblieben; jedoch der in ihm vorausgesagte Abfall ist schon erschreckend weit fortgeschritten, so daß zu befürchten ist: "Noch viele werden in der Wüste sterben". Tröstlich ist es deshalb, zu wissen, daß Gott gegen Ende der Wüstenwanderung des alttestamentlichen Bundesvolkes einen Mann berief, der in der Lage war, den noch unerfüllten Auftrag des Mose auszuführen und das Volk in das verheißene Land zu bringen. Deshalb hat die Hoffnung, daß auch das Volk des Neuen Bundes seinen "Josua" bekommt, einen festen Grund: Gesandte Jesu Christi, mit der Geisteskraft und der Vollmacht der ersten Apostel versehen, so wie Josua mit der Herrlichkeit des Mose ausgestattet war.

Lesen Sie, wie nach katholisch-apostolischer Auffassung im 19. Jahrhundert der Wiederaufbau der Kirche auf ihren ursprünglichen Grundlagen seinen Anfang genommen hat

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