Die mit der Sonne bekleidete Frau

 

 

A. Die Frau, der Drache und das Kind 12, 1-6

1 Da erschien ein großes Zeichen am Himmel: Ich sah eine Frau, die mit der Sonne bekleidet war; sie hatte den Mond unter ihren Füßen, und auf ihrem Kopf trug sie eine Krone aus zwölf Sternen. 2 Und sie war schwanger und schrie in ihren Wehen, denn die Schmerzen unmittelbar vor der Geburt hatten sie erfaßt. 3 Und ein anderes Zeichen erschien am Himmel: Ein großer feuerroter Drache, der sieben Köpfe und zehn Hörner hatte und auf seinen Köpfen sieben Kronen. 4 Sein Schwanz fegte den dritten Teil der Sterne des Himmels hinweg und warf sie auf die Erde. Und der Drache stellte sich vor die Frau, die gebären wollte, damit er ihr Kind verschlinge, sobald sie geboren hätte. 5 Und sie gebar einen Sohn, einen kraftvolles männliches Kind, das dazu bestimmt war, alle Völker mit eisernem Stab zu weiden. Und das Kind wurde zu Gott und zu seinem Thron entrückt. 6 Die Frau aber floh in die Wüste, wo sie eine von Gott bereitete Stätte hatte, damit man sie dort tausendzweihundertsechzig Tage lang ernährte.

12, 1: Das große Zeichen, das Johannes am Himmel erblickt, hat nicht allein optische Größe; es ist vor allem für das endzeitliche Geschehen von herausragender Bedeutung. Die hier beschriebene Frau versinnbildlicht nicht etwa, wie vielfach angenommen, Maria, die Mutter Jesu und auch nicht das Volk Israel. Die Offenbarung blickt nicht auf das Kommen Jesu in Niedrigkeit zurück, sondern stets hat sie, jenes voraussetzend, sein zweites Kommen in Macht und Herrlichkeit im Blick.

In der Sprache der biblischen Prophetie stellt eine Frau das Volk Gottes dar, wobei Gott als der Ehemann bzw. der Verlobte dieser Frau gedacht wird. An dieser Stelle nimmt das Symbol nicht auf die Gesamtheit des Gottesvolkes, sondern nur auf einen Teil desselben Bezug. Die Sonne, mit der die Frau bekleidet ist, ist ein Sinnbild Christi, den alle Getauften "angezogen" haben. Es wird hier offenbar eine Schar Gläubiger umschrieben, die den Segen der Taufe nicht allein anerkennt, sondern auch in "leuchtender Weise" sichtbar werden läßt. Sie ist also mit den Gaben und Kräften des Heiligen Geistes in reichem Maße ausgestattet.

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Im Gegensatz zur Sonne hat der Mond keine eigene Leuchtkraft, denn er reflektiert das Licht der Sonne. Er ist auf diese Weise ein treffendes Sinnbild der Kirche, die sie geistliches Licht und Leben allein von ihrem himmlischen Herrn empfängt. Im vorliegenden Bild, das den Mond unter den Füßen der Frau platziert, ist auf den wechselvollen Verlauf der Geschichte der Kirche mit seinen Höhe- und Tiefpunkten hingewiesen. Er hat Ähnlichkeit mit den verschiedenen Phasen des Mondes, die sich im ständigen Wechsel des Lichts und der Finsternis endlos wiederholen. Dieses leidvolle "Auf und Ab" haben die hier beschriebenen Gläubigen unter ihren Füßen, d.h. im großen und ganzen oder doch zumindest prinzipiell überwunden. Es ist hier also eine Gemeinde beschrieben, die einen Zustand der "Vollkommenheit" erreicht hat, obwohl sie noch nicht in die himmlische Herrlichkeit versetzt ist.

Die mit zwölf Sternen besetzte Krone auf dem Kopf der Frau ist ein Sinnbild des zwölffachen Leitungs- und Lehreramtes der Kirche, das ihr in ihrer Gründungszeit zur Ordnung aller ihrer Lehre und Leben betreffenden Angelegenheiten vorangestellt worden war. An der Spitze der hier beschriebenen Schar von Gläubigen stehen demnach zwölf Apostel. Diese Vision birgt folglich die Verheißung in sich, daß das apostolische Amt in der Zeit des Endes eine Neubelebung erfährt. In einer Zeit tiefen kirchlichen Verfalls, in der "Sonne und Mond ihren Schein verlieren und die Sterne des Himmels auf die Erde fallen", leuchtet im Glanz Christi eine Gemeinde, die mit zwölf Aposteln prächtig geschmückt ist, aus der allgemeinen Dunkelheit des kirchlichen Lebens hervor.

12, 2: Die Frau ist schwanger. Sie ist dazu bestimmt, durch eine geistliche Geburt neues Leben hervorzubringen, und zwar ein kraftvolles männliches Kind. Es geht hier nicht etwa um die Menschwerdung des Sohn Gottes, sondern umgekehrt um Menschen, in denen sich das Auferstehungsleben Christi mit unwiderstehlicher Macht Bahn bricht: Unter der Pflege und Obhut der sternengekrönten Frau wird eine Schar Gläubiger gesammelt, geistlich auferbaut und so auf das Kommen Christi vorbereitet. Diese Geburt eines schnell zur geistlichen Reife gelangenden irdischen Lebens, dem dann der Durchbruch zum unvergänglichen himmlischen Leben, nämlich Verwandlung und Entrückung folgen soll, kann niemand aufhalten; allerdings wird dies ohne Wehen, ohne geistliche Schmerzen der Geburt, nicht vonstatten gehen: auch der "Erstlingsschar", die noch vor dem Beginn der "großen Ernte" und der "Nachlese" in die himmlische Herrlichkeit entrückt werden soll, wird der Vorgeschmack der großen Drangsal nicht erspart bleiben.

Während die "Erstlinge" im siebten Kapitel der Offenbarung als 144.000 Einzelne, die versiegelt werden, dargestellt sind, erscheinen sie im hier als ein aus allen Konfessionen und Denominationen der einen Kirche zusammengefaßtes Ganzes, als kraftvolles männliches Kind, das zunächst den Schoß seiner Mutter als "reife Erstlingsfrucht" durchbricht und darauf zu Gott entrückt wird. Die hier beschriebene Geburt schaut beides in eins: sowohl das Entstehen und schnelle geistliche Heranreifen einer auserwählten Schar treuer Gläubiger, als auch den darauf folgenden Durchbruch zu der ganz neuen Lebensform, die mit der ersten Auferstehung bzw. der Verwandlung der zu dieser Zeit lebenden Gläubigen ins Dasein tritt.

Die diesem Ereignis vorangehenden geistlichen Wehen beziehen sich dem unmittelbaren Zusammenhang nach zunächst auf die Widerstände und Anfeindungen, denen im 19. Jahrhundert die Vertreter der katholisch-apostolischen Bewegung ausgesetzt waren, dann aber auch, nachdem - wie schon in den Zeiten der frühen Kirche - die Naherwartung der Entrückung sich nicht erfüllte, auf das Vorstadium der großen Drangsal, nämlich auf die Gerichte der fünften Posaune: Die geistliche Heuschreckenplage ist es, die den zur Entrückung bestimmten Versiegelten nicht erspart bleiben wird.

12, 3: Ebenfalls im Himmel, d.h. in derselben Sphäre geistlichen Lebens, in der die treue Erstlings-Gemeinde dem Durchbruch des Auferstehungslebens entgegensieht, tritt nun ein anderes, d.h. ein weiteres Zeichen in Erscheinung, das die feindliche Gegenbewegung zum Heilsplan Gottes darstellt: Ein großer feuerroter Drache tritt auf den Plan, der mit der Vernichtung des neu hervorbrechenden Lebens zum entscheidenden Schlag gegen Gottes Heilswerk ausholen will. Der Drache ist ein Bild Satans, des ärgsten Widersachers Gottes, hier dargestellt als ein Ungeheuer, das alles verschlingen will. Seine rote Farbe, die auf frisch vergossenes Blut hinweist, kennzeichnet ihn als den Mörder von Anfang an. Das Feuer bringt zum Ausdruck, daß er mit unbändigem Eifer erfüllt ist, die Werke Gottes zu zerstören.

Der Drache hat sieben Köpfe. Die Zahl Sieben, für sich gesehen, steht für die Fülle des Heiligen Geistes; hier jedoch macht sie deutlich, daß die Macht Satans, der ein gefallener Engel ist, in erster Linie geistlicher Natur ist. Noch kann er im Blick auf die Erdenbewohner über geistliche Gaben und Kräfte ungeheuren Ausmaßes verfügen, und als der "Gott dieser Welt" läßt er es auf den Versuch ankommen, die Erde und ihre Bewohner vollends in seinen Besitz zu bringen. Während die sieben Kronen seinen Anspruch auf königliche Herrschermacht darstellen, versinnbildlichen die zehn Hörner zehn Herrscher, die sich mit dem Antichristen verbünden und derer er sich zur Durchsetzung und Festigung seiner Herrschaft bedienen wird.

12, 4+5: Mit seinem Schwanz, d.h. mittels seiner Anhängerschaft auf Erden, fegt der Drache den dritten Teil der Sterne des Himmels, nämlich einen großen Teil der Lehrer der Kirche, hinweg, um sie auf die Erde zu werfen, sie in eine irdische, ungeistliche Gesinnung hineinzuziehen. Der dritte Teil ist als Anspielung auf den Geist der Kirchenlehrer zu verstehen, der als zentrale "Schaltstelle" der Seele auch das Einfallstor für die Mächte und Kräfte der jenseitigen Welt ist. Die hier bezeichneten Lehrer der Christenheit entziehen ihren Geist dem Einfluß des Heiligen Geistes und öffnen sich dem antichristlichen Geist ihrer Zeit - mag dies nun aus böswilligem Vorsatz oder in verblendetem, vermeintlich "gutem Glauben" geschehen. Doch trotz seiner großen Macht kann der Drache die Geburt eines kraftvollen männlichen Kindes aus dem Mutterschoß der Kirche, d.h. das geistliche Heranreifen der Erstlinge in den verschiedenen Teilen der Christenheit, nicht verhindern. In buchstäblich wunderbarer Weise entgehen sie seinem Anschlag; denn zu einem genau bestimmten Zeitpunkt nach dieser Geburt, der Gott allein bekannt ist, wird das kraftvolle Kind, die nun endgültig vollzählige Schar der Versiegelten, zum Thron Gottes entrückt. Es ist dazu bestimmt, alle Völker mit eisernem Stab zu weiden. Hiermit wird auf die königliche und richterliche Vollmacht Christi angespielt, an der die Erstlinge in besonderer Weise Anteil haben werden.

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