Zum Verständnis der Heiligen Schrift (3)

 

6. Die Heilige Schrift und die Kirche

Es ist ein Irrtum, anzunehmen, das "Zeugnis Gottes für die Welt" sei in erster Linie die Heilige Schrift, war dieses doch stets - und ist es bis heute - ein "lebendiges", d.h. durch Menschen vermitteltes Zeugnis. Die Schriften der Bibel sind lediglich Berichte dieses Zeugnisses, nicht das Zeugnis selbst. Dieses wird vielmehr durch die Kirche verkörpert. Als "stellvertretende Gesandte" ihres himmlischen Herrn, dem die höchste Zeugnisfunktion zukommt, existierte und agierte sie bereits vor der Kanonisierung aller biblischen Schriften. Die Kirche - und nicht etwa die Bibel - ist Hüterin der Schätze und der Weisheit Gottes. Sie ist auch die lebendige Erklärerin und Auslegerin des "Gesetzes des Lebens", das in der Schrift "nur" enthalten ist.

Andererseits wird die Kirche ihr Zeugnis, d.h. all ihre Handlungen und Verlautbarungen, niemals losgelöst von der Schrift, sie verkürzend, entstellend oder überbietend, ausüben dürfen. Es geht also nicht um die Alternative Schrift oder Kirche, sondern um die richtige Verhältnisbestimmung. Zwei ungesunde Extreme traten im Katholizismus und im Protestantismus hervor: Während der römische Klerus den Laien den freien Zugang zur Bibel versperrte und auf diese Weise deren notwendige Korrektur- und Normfunktion unterband bzw. auf sich selbst übertrug, verfiel man im Protestantismus, der die Bibel aus ihrer langen Gefangenschaft befreit hatte, in das gegenteilige Extrem. Man erhöhte sie dermaßen, daß man sich zu der Behauptung versteigen konnte, sie sei imstande, sich selbst auszulegen und bedürfe deshalb nicht der Beglaubigung, Verdeutlichung und Auslegung durch Kirche und Tradition. Die Schrift - und nur sie - sei als Richterin, Richtschnur, Maßstab und Prüfstein der kirchlichen Lehre zu betrachten. Kurz: man traute der Bibel als solcher tatsächlich zu, der Kirche das leisten zu können, was im Anfang Christus selbst bzw. in seinem Auftrag die Apostel ausrichteten.

So nahm im Protestantismus die Bibel faktisch die Stelle der Kirche bzw. des kirchlichen Amtes ein. Richtig an dieser extremen Position ist, daß alles, was in der Kirche geschieht, der Norm der Schrift entsprechen muß, dennoch hätte das Pendel - im Gegenzug zum Katholizismus - nicht soweit ausschlagen dürfen, daß die Bibel als Buch das kirchliche Amt und die durch dieses ergehende lebendige Auslegung und Anrede Gottes in ihrer Bedeutung verdunkelt oder gar verdrängt. Der Ausleger der biblischen Schriften ist letztlich der Heilige Geist, doch dieser ist nach Gottes Ordnung - trotz aller geschehenen Mißbräuche im Katholizismus und anderswo - zuallererst in den rechtmäßig ordinierten Dienern der Kirche wirksam.


7. Die Heilige Schrift und das kirchliche Lehramt

Allein unter der Voraussetzung, daß mit Lehrautorität begabte Menschen in der Kirche tätig sind, wurden ihr die Schriften des Neuen Testaments anvertraut. Enthält dieses doch weder systematische Lehrgebäude, noch ist es in der Lage, auf alle Fragen, die Lehre und kirchliches Leben betreffen, hinreichende Antworten zu geben. Die Kirchengeschichte des Protestantismus beweist denn auch zur Genüge die Unzulänglichkeit des sola-scriptura-Prinzips, behaupten doch alle Konfessionen protestantischer Herkunft, ihre Lehre stimme mit der Bibel überein. Und wie selbstverständlich verteidigen alle Kirchen der Reformation ihre Einseitigkeiten und Irrtümer mit der Bibel. Das sola-scriptura-Prinzip muß in der Praxis schon allein deshalb versagen, weil die Leiter der Kirchen nicht "allein die Bibel sprechen lassen" können. Vielmehr kommen sie nicht umhin, die Schrift auszulegen und darüber zu entscheiden, inwiefern diese oder jene Lehre mit der Bibel übereinstimmt oder nicht. Die eigentliche Frage zielt deshalb auf Personen ab: Wer hat Auftrag und Vollmacht, die Lehre der Kirche verbindlich zu formulieren?
Der "alleinigen Autorität der Heiligen Schrift" im Protestantismus bzw. der faktischen Vollmacht eines jeden Theologieprofessors oder Pfarrers, seine persönlichen Ansichten als allgemeine Kirchenlehre zu verkünden, steht der Anspruch des Papstes bzw. des römischen Klerus auf universalkirchliche Lehrautorität gegenüber. Niemand kann jedoch bis heute beweisen, daß Petrus oder ein anderer Apostel das Bischofsamt in Rom bekleidete. Auch wenn dies so gewesen wäre, so wäre doch allein das bischöfliche und nicht das apostolische Amt auf die Nachfolger übergegangen; denn ein Apostel kann zwar einen Bischof, nicht aber einen Apostel in sein Amt einsetzen. Auch ökumenische Konzile sind nicht autorisiert, verbindliche Kirchenlehre festzuschreiben. Wie die Versammlung vieler Priester keinen Bischof macht, so auch nicht die Versammlung vieler Bischöfe einen Apostel. Ein Konzil ist nur dann berechtigt, neben der Ausübung beratender Tätigkeit verbindliche Gesetze zu erlassen, wenn Apostel den Vorsitz führen. Andernfalls wird der Gefahr, daß die Kirche zur Demokratie und die Stimmenmehrheit von Menschen zur Verkünderin der ewigen Wahrheit wird, kaum zu wehren sein. Im übrigen haben die verschiedenen Konzile nicht selten einander widersprochen und waren die Entscheidungen von der Wahl des Versammlungsorts und dem Gelingen oder Mißlingen listiger Anschläge abhängig.

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